Demenz hat viele, verschiedene Formen. Die häufigste Form davon – mit einem Anteil von rund 60% – ist Alzheimer. Meine Frau und ich haben drei Pflegefälle an der Backe. Einer davon hat Alzheimer. Bei Alzheimer zerfällt das Gehirn des Erkrankten ganz langsam über etliche Jahre hinweg und unwiderruflich. Es gibt keine Heilung. Man kann den Krankheitsverlauf allerdings mitunter durch Therapie und Medikation hinauszögern – sofern der Erkrankte mitspielt. Wie äußert sich so eine Erkrankung? Es beginnt ganz langsam und schleichend, nahezu unmerklich. Jetzt wäre der Zeitpunkt für Medikamente und Therapie da, um den Krankheitsverlauf rauszuzögern. Doch es wird schlimmer und irgendwann verläuft die Talfahrt des einst funktionierenden Gehirns exponentiell. Dann wird es von Tag zu Tag sehr viel schlimmer.

Wenn man mit Menschen, die das nur vom Hörensagen kennen, darüber spricht, dann trifft man auf eine Mauer von Unverständnis und Unglauben. Unverständnis und Unglauben, geboren aus Unwissen. Sie setzen ein frühzeitige und zutreffende Diagnostik voraus. Nein – die existiert nicht. Besagte Menschen glauben doch allen Ernstes, dass in dem Falle einer Demenzerkrankung unser Staat oder die Kranken- oder Pflegekasse oder sonstwer die Kosten übernimmt, für eine Heimunterbringung sorgt, dass der Erkrankte kooperativ und froh sowie voll des Dankes für die ihm zuteil werdende Hilfe ist u. ä. Schwachsinn. Genau das Gegenteil ist Fall!

Tatsächlich sieht es so aus, dass pflegende Angehörige die billigsten nur denkbaren Rund-um-die-Uhr-Pflegekräfte sind. Tatsächlich wird daher auch alles getan, um sie so lange wie nur irgend möglich auch zur häuslichen Pflege zu verdammen – und zwar möglichst, ohne ihnen unter die Arme zu greifen. Weil das Geld kostet – nämlich viel Geld! Und was dann passiert … Manchmal berichten die Medien sensationsheischend darüber, dass ein Angehöriger einen ihm anbefohlenen Pflegefall umgebracht hat – was für ein grausamer Unmensch! Nein; es verhält sich gänzlich anders. Ich kann solche Menschen durchaus verstehen. Denen sind einfach nur die Nerven durchgegangen: Wenn ein Alzheimerkranker einkackt, dann denkt er sich kurz „Oh, schön warm da unten!“ und das war’s dann auch schon. Mehr ist nicht zu erwarten – und so gerät die Pflege eines Alzheimerkranken schnell zum Horrortrip für alle Beteiligten. Warum? Weil es unausweichlich ist. Hier sind mal meine eigenen Erfahrungen damit.

2013

Einsetzen erster, merklicher Veränderungen beim künftigen Pflegefall. Zunächst handelte es sich ledigliche um häufige Verwechslungen von ähnlich klingenden Begriffen bzw. Wörtern, welche die Unterhaltung mit dem Erkrankten erschwerten. Das hätte noch alle möglichen Ursachen haben können. Der Pflegefall selbst jedenfalls erachtete seinerzeit keinerlei Arztgang für notwendig, auch wenn der oftmals empfohlen wurde. Das alles steigerte sich dann aber ab dem Folgejahr.

2014

Erste psychische Veränderungen sind bemerkbar. Der Pflegefall zieht sich von täglichen Hausarbeiten zurück und tätigt anderen Personen gegenüber in vollster Überzeugung Falschauskünfte. Er verhält sich, deswegen zur Rede gestellt, absolut ignorant. Hinzu kommen im Jahresverlauf deutliche Anzeichen von Vergesslichkeit. So wird bspw. die auf dem Herd stehende Pfanne bis zum Fettbrand erhitzt, weil sie schlicht vergessen worden ist. Auch ist vergessen worden, wie das Fernsehgerät eingeschaltet wird u. ä. Dinge des Alltags. Der Pflegefall lehnt immer noch die ärztliche Untersuchung ab und führt stattdessen zur eigenen Beruhigung eine Überlastung als Grund für die Aussetzer an.

2015

Die Fähigkeit, den eigenen Haushalt zu führen, ist dem Pflegefall abhanden gekommen. Er benötigt dafür tägliche Hilfe und kann es alleine nicht mehr. Zahllose Dinge des Alltags (Schlüssel, Brieftasche, Krankenkassenkarte, Brille, Zahnersatz etc.) werden permanent und z. T. unauffindbar verlegt, so dass teure und mitunter sehr langwierige Neubeschaffungen erforderlich werden. Die Alltagskompetenz ist stark eingeschränkt. Situationen werden nicht mehr korrekt und folgerichtig beurteilt; so werden bspw. Ersthelfer nach einem kritischen Unfall unflätig beschimpft. Im Zuge der Unfallbehandlung untersucht der Hausarzt den Pflegefall und diagnostiziert eine „altersbedingte, ganz normale Vergesslichkeit“, was Wasser auf die Mühlen des Pflegefalls ist, der eine Demenzerkrankung nicht wahrhaben will. Im Jahresverlauf steigert sich das unauffindbare Verlegen von Alltagsgegenständen ganz enorm und der Pflegefall beginnt, seinen Haushalt verkommen zu lassen. Nicht mal mehr die Küche wird noch ausgefegt. Die Verhaltensänderungen werden so auffällig, dass selbst außenstehende Dritte eine Demenz vermuten. Ferner zeigt der Pflegefall keinerlei Interesse mehr an den Lebensverhältnissen seiner ihn pflegenden Angehörigen und beginnt, einen ausgeprägten Egoismus zu kultivieren. Er ist unfähig geworden, anderen in einer Notsituation Hilfe zu leisten und ergeht sich in lautstarkem, höhnischem Spott dem Hilfebedürftigen gegenüber u. d. h. die Fähigkeit, eine Situation richtig einschätzen und folgerichtig handeln zu können, ist ihm komplett abhanden gekommen, woraus eine nicht unbeträchtliche Unfall- und Verletzungsgefahr ihm selbst und anderen gegenüber resultiert.

Der Pflegefall beginnt unwissentlich und unbeabsichtigt damit, alles, was ihm zu kompliziert geworden ist, zu zerstören. Selbst der Toilettengang gerät zum Problem. Die betroffene Person zieht sich immer mehr zurück und bewegt sich nur noch im Bedarfsfall. Zum Ausgleich dafür wird reichlich Nahrung auf- und folglich auch an Gewicht zugenommen. Aufgrund des Körpergewichts ist es ihm nicht mehr möglich, aus eigener Kraft auf die Beine zu kommen, wenn er das Gleichgewicht verloren hat und gestürzt ist. Der beständige Hilferuf nach den Pflegepersonen wird zur täglichen Gewohnheit, zu jeder Tages- und Nachtzeit und auch wegen zahlloser Kleinigkeiten des täglichen Lebens. Zeitgleich teilt der Pflegefall Lügen und Unwahrheiten über die Pflegepersonen voller Überzeugung Dritten mit, so dass die Pflegepersonen mit Richtigstellungen beschäftigt sind. Der Patient ist sich dabei seines eigenen Fehlverhaltens in keinster Weise bewusst und weist derartiges, eigenes Fehlverhalten ganz entrüstet weit von sich. Orts- und Zeitgedächtnis des Patienten sind löcherig geworden: Er weiß oftmals nicht mehr, welcher Tag es ist und in welchem Ort er ist.

2016

Der Pflegefall hat sich psychisch vollkommen verändert und verlässt das Haus gar nicht mehr; soziale Kontakte existieren nicht mehr. Er zeichnet sich durch eine extreme Bequemlichkeit aus. Im Haushalt wird gar nichts mehr getan, weder Wäsche gewaschen noch irgendetwas weggeräumt noch geputzt, gekocht usw. Die Pflegepersonen sind zum Personal geworden, was bei allem Verständnis für die erkrankte Person als unerträglich empfunden wird. Die Zerstörungen durch das Fehlverhalten des Patienten nehmen dramatisch zu (unter Wasser gesetzte Wohnung u. ä.), was zum teuren Handwerkereinsatz führt. Der Patient ist sich aber bei alldem keinerlei Schuld bewusst. Die Desorientierung hat einen Höhepunkt erreicht und die Pflegepersonen vermeiden es möglichst, die erkrankte Person überhaupt noch allein zu lassen. Der Pflegefall wähnt sich dabei irgendwann in den Jahren zwischen 1970 und 1990, hat zeitweilig den Euro als Währung vergessen und sucht in seiner Wohnung krampfhaft nach D-Mark. Er vernachlässigt die Körperpflege derart, dass man ihn riecht bevor man ihn sieht, verhält sich aber bei Aufforderung zum Waschen gegenüber Angehörigen ausgesprochen unkooperativ. Hilfe von dritter Seite (Sozialdienst) wird vehement abgelehnt. Der Patient schließt sich regelmäßig und lange in seiner Wohnung ein. Er ist zum Mittelpunkt seines immer weiter um ihn herum schrumpfenden Universums geworden und fordert mit aller Selbstverständlichkeit, dass die Pflegepersonen für ihn ausnahmslos alles (Kochen, Putzen, Waschen, Wäsche wegräumen, Körperpflege, Kleidungswechsel, Aussortieren von Schmutzwäsche, Einkäufe, Fäkalienbseseitigung, Müllentsorgung usw.) übernehmen.

Er hält alle Angehörigen permanent auf Trab, denn er kann nichts im Gedächtnis behalten. I. d. R. ist alles nach zwei oder drei Minuten schon wieder hoffnungslos vergessen, weswegen die gleichen Fragen immer wieder auf’s Neue gestellt werden, und zwar mit entnervender Monotonie. Hinzu kommt ein mitunter ausgesprochen kindisches Verhalten. Ein erneuter Hausarztbesuch wird – da vom Patienten strikt abgelehnt – erst im x-ten Anlauf realisiert. Der Hausarzt bleibt bei seiner Diagnose „altersbedingte, ganz normale Vergesslichkeit“, überweist den Pflegefall aber nach massivem Druck seitens der Pflegepersonen zwecks Kontrolle zum Neurologen. Der Patient verweigert dabei die Mitarbeit und die neurologische Untersuchung, was zur weiteren Verzögerung führt, wodurch die Angehörigen nervlich am Ende sind. Der Pflegefall hat sich ein eigenes, durch und durch krankes Weltbild zusammengezimmert und belästigt jeden, der es nicht hören will, damit. So hat er vergessen, dass seine Enkelkinder längst schon volljährig und berufstätig sind und wähnt die immer noch in Kindergarten oder Schule, zeigt dabei aber selbst ein durch und durch kindisches Verhalten. Die Pflegepersonen werden mit einer unerträglichen Selbstverständlichkeit lautstark beschimpft und beleidigt; ein Wort des Dankes gibt es nie. Die Alltagkompetenz ist jetzt nicht mehr nur eingeschränkt, sondern de facto gar nicht mehr vorhanden. Der Patient ist unfähig geworden, zu erkennen, wie sehr er die Angehörigen belastet. Vielmehr ergeht er sich von Zeit zu Zeit darin, aggressiv-lautstark loszubrüllen, wenn ihm etwas nicht passt. Dieses Verhalten ist neu und steigert sich in Folge noch so extrem, dass durch die verbale Aggressivität selbst die Nachbarn auf den Plan gerufen werden. Er verwandelt seine Behausung in ein Dreckloch und fühlt sich darin wohl. Schriftwechsel mit Ämtern, Krankenkassen, Behörden, Versicherungen etc. ist ihm zuwider und daher vernichtet er die betreffenden Schreiben – bis betroffene bzw. zuständige Dritte persönlich vorstellig werden. Die lässt er nicht rein und die Konsequenzen seines Handelns haben die Pflegepersonen richtig zu stellen. Um der Untersuchung hinsichtlich einer Demenzerkrankung zu entgehen, wird Krankheit vorgetäuscht: Heute die Zähne, morgen der Magen, übermorgen die Füße usw. Jeden Tag eine andere Ausrede.

2017

Der Neurologe diagnostiziert jetzt, fast fünf Jahre nach den ersten, auffälligen Symptomen Alzheimer im fortgeschrittenen Stadium. Dadurch wird der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) auf den Plan gerufen. Dessen Begutachtung verzögert sich aufgrund des ablehnenden Verhaltens des Pflegefalls ganz enorm und findet letztlich in Abwesenheit der Pflegepersonen statt, weil der Erkrankte ja als geschäftsfähig gilt. Aufgrund von seitens des Pflegefalles voller Überzeugung vorgebrachter Falschauskünfte (Unwahrheiten und Wunschdenken) – er weiß nicht mehr was er sagt, bringt das allerdings sehr glaubhaft rüber – wird dem Pflegefall ein Pflegegrad von 1 zugeteilt, was zwar in krassem Widerspruch zur Diagnose des Neurologen steht, aber der Pflegekasse noch keine Kosten verursacht. Die Pflegepersonen drängen daher wochenlang auf einen Widerspruch und drohen damit, alle Hilfsmaßnahmen umgehend einzustellen – was irgendwann auch geschieht. Als der Pflegefall nach drei Tagen nichts mehr zu Essen auf dem Tisch hat gibt er nach, unterschreibt und der Widerspruch gegen die hirnrissige Einstufung läuft. Ein halbes Jahr später – die Pflegepersonen führen jetzt den Haushalt des Pflegefalles komplett, versorgen den Patienten mit Nahrung, tätigen seine Einkäufe, erledigen alle Aufgaben Dritten gegenüber für ihn, reparieren täglich hinter ihm her und dürfen sich als Dank dafür sehr oft unflätig und teils sogar vulgär beschimpft anbrüllen lassen – kommt es zur Neubegutachtung seitens des MDK. Jetzt ist es plötzlich ein Pflegegrad 3 geworden, und zwar rückwirkend. Die Pflegekasse müsste jetzt Pflegegeld an die erkrankte Person (NICHT an die Pflegepersonen!) bezahlen, tut es aber nicht. Sie zögert das hinaus.

Der Pflegefall verhält sich inzwischen selbst der hinzu gezogenen Sozialstation gegenüber lautstark-unkooperativ und verbal-aggessiv, so er die denn überhaupt mal rein lässt. Er kapselt sich immer mehr ab und bewegt sich immer weniger, wodurch sein Gewicht auf die Zwei-Zentner-Grenze zusteuert. Das machen die Gelenke nicht mehr mit und ein Rollstuhl ist absehbar: Teilt man das aber dem Patienten mit, dann bekommt er einen aggressiven Tobsuchtsanfall, weil er eins und eins nicht mehr zusammenzählen kann. Die Pflegeperonen sind für ihn die undankbaren Bösewichte schlechthin geworden und andere Menschen, die ihn nur äußerst sporadisch mal besuchen (und im Grunde genommen auch gar nicht kennen) betrachtet er als freundliche Vertrauenspersonen. Auf diese Weise fällt er mehrfach auf skrupellose Trickbetrüger rein. Die verordnete Medikation seitens der Pflegepersonen wird permanent abgelehnt, mitunter sogar mit der Begründung, dass die ihn vergiften wollen. Das die Pflegepersonen Tag und Nacht bzw. rund um die Uhr für ihn da sind ist für ihn in seinem pathologischen Egoismus das Selbstverständlichste von der Welt geworden. So lädt er bspw. telefonisch Gäste ein und muss sich in Folge erstmal hinlegen, während er erwartet, dass die Pflegepersonen alles für eine grundlose Feier mit einer großen Gesellschaft ausrichten – und auch finanzieren. Jegliche Weigerung der Pflegepersonen, derart abartiges Verhalten mit zu tragen, wird als persönlicer Angriff gewertet. Die Korrespondenz mit der Pflegekasse gerät zum Chaos, denn der Pflegefall gilt offiziell ohne vom Gericht bestellten Betreuer immer noch als voll geschäftsfähig, bekommt daher alle Schreiben und vernichtet die ohne Wissen der Pflegepersonen. Letztere haben inzwischen ihre Arbeitszeiten so legen müssen, dass permanent jemand von ihnen in der Wohnung ist und gehen längst schon auf dem Zahnfleisch. Den Besuch einer Tagespflege aus therapeutiscen Gründen lehnt der Pflegefall vehement ab. Das wäre aufgrund seiner Unpünktlichkeit und dem Unvermögen, Termine einzuhalten, auch nur schwerlich realisierbar und würde daher die Aufgabe der beruflichen Tätigkeit von mindestens einer Pflegeperson – inklusive aller damit verbundenen, finanziellen Nachteile (gerade auch für die Rente) – erfordern.

2018

Der Pflegefall hat Bestellungen getätigt und kann sich nicht mehr daran erinnern, verweigert ergo auch den Empfang der Waren. Eine Medikation findet weiterhin nicht statt, weil die gleichfalls verweigert wird; auch wirft der Pflegefall die Medikamente weg. Er bekleckert sich permanent beim Essen, lässt viel auf den Fußboden fallen und tritt es breit in seiner ganzen Wohnung rum. Die Körperhygiene wird häufig verweigert, denn „das Wasser macht die Haut dünner“. Kleidung wird nur noch (nach Wochen!) gewechselt, wenn die Pflegepersonen harte Worte finden. In der Wohnung ist den ganzen Tag über die Jalousie unten und der Pflegefall lebt in Dunkelheit, will nicht an die Sonne. Gelüftet wird nicht und es stinkt gottserbärmlich. Es gibt keinerlei Zeitempfinden mehr, so dass auch häufiger mitten in der Nacht lautstark nach Mittagessen verlangt wird. Ein Tagesrhythmus existiert ebensowenig; nächtliche Störungen der Pflegepersonen sind die Regel. Verlässt er tatsächlich mal das Haus, dann ist er total orientierungslos, irrt herum und muss gesucht werden bzw. es erfolgt ein Anruf von Dritten, die ihn aufgegriffen haben.

Was er nicht (mehr) versteht – und das wird leider von Tag zu Tag mehr – existiert für ihn nicht. Stattdessen reimt er sich in seinem kranken Gehirn irgendetwas zusammen und so erzählt er mit der größten Selbstverständlichkeit teils haarsträubende Lügen über andere inklusive der Pflegepersonen. Beim Telefonieren können nur noch die vier Tasten mit den eingespeicherten Nummern bedient werden und alles andere ist viel zu kompliziert geworden. Um den Fernseher einzuschalten wird dessen Fernbedienung auf dem Gerät kaputtgeschlagen. Um ihn abschalten wird das Kabel abgerissen. Abfälle werden so lange im Küchenabfluss runtergespült, bis der verstopft ist und die Küche unter (Dreck-) Wasser steht. An klemmenden Schubladen wird so lange herumgerissen, bis die sich in Trümmer verwandelt haben. Die Pflegepersonen putzen und reparieren pausenlos hinterher, aber der Pflegefall benötigt nicht einmal zwei Stunden, um aus einer in stundenlanger Kleinarbeit auf Hochglanz polierten Wohnung wieder das ultimative Messie-Dreckloch zu machen. Die Pflegepersonen bekochen den Pflegefall jetzt permanent, doch der weist mittlerweile mit „Ich will was anderes!“ nur allzuoft das Essen zurück. Benutztes Geschirr wandert schmutzig – Töpfe sogar mit Inhalt – zurück in die Schränke. Bis die von Maden besiedelt werden.

Die Pflegepersonen sind mit ihrer Kraft am Ende. Sie bräuchten jetzt dringend selbst mal Urlaub, und wenn es nur eine einzige Woche wäre. Dafür existiert die Regelung der Verhinderungspflege, die so etwas maximal vier Wochen im Jahr ermöglichen soll. Aber: Besagte vier Wochen werden dringend dafür benötigt, die Heimunterbringung des Pflegefalls zu gewährleisten, wenn der sich im Rahmen von selbstschädigendem Verhalten mal wieder eine Lebensmittelvergiftung durch das vergammelte Zeug aus den Töpfen in seinen Schränken zugezogen hat. Oder wenn ein Knochenbruch seinerseits auszukurieren ist, weil in blinder Selbstüberschätzung auf die Benutzung einer Gehhilfe verzichtet wurde und es daher zum Sturzunfall kam. Den Pflegepersonen bleibt daher, wenn sie denn mal eine Woche lang Abstand gewinnen wollen, nichts anderes übrig, als bei Bekannten und Verwandten zu bitten und zu betteln. Wenn es dann tatsächlich klappt, dann sagt hinterher so mancher: „Das ist unzumutbar! Nie wieder!“ All die Pflegeleistungen sind mit erheblichen Kosten verbunden, für welche bislang die Pflegepersonen aufgekommen sind. Als es bei denen finanziell eng wird und sie nach dem Pflegegeld fragen, da stellt sich heraus, dass die Pflegekasse seit eineinhalb Jahren noch keinen einzigen, müden Cent überwiesen hat. Das Anmahnen der mittlerweile vierstelligen Summe aber ist Sache des Pflegefalls, da der rein juristisch ja noch voll geschäftsfähig sein soll. Der will das nicht, will nur noch in Ruhe gelassen werden, versteht im Grunde genommen auch gar nicht, worum es überhaupt geht und lässt sich erst zur Unterschrift unter ein seitens der Pflegepersonen vorbereitetes Schreiben herab, als die ihre Leistungen nach mehrfacher Androhung komplett einstellen und er nichts zum Essen auf dem Tisch hat.

Besagte Nachfrage führt nicht etwa zur Zahlung, sondern vielmehr zur Kontrolle des MDK dahingehend, ob die Pflegepersonen ihrer Pflegeverpflichtung auch wirklich nachkommen. Im Zuge dieser nunmehr dritten Begutachtung bestätigt der MDK eine weit fortgeschrittene Alzheimer-Erkrankung, ablehnend unkooperatives und oftmals sogar aggressives Verhalten sowie vollständigen Verlust von örtlicher nebst zeitlicher Orientierung. Dem Pflegefall wird quasi die Fähigkeit des Überlebens in Eigenregie abgesprochen, weil er keinerlei korrekte Einschätzungen mehr vornehmen kann. Der Pflegefall selbst bewegt sich inzwischen aufgrund seines Gewichts nur noch mit kleinsten Trippelschrittchen und muss sich überall festhalten und abstützen. Die Pflegepersonen müssen ihn häufig auffangen, weil er zu stürzen droht u. d. h. sie müssen im Grunde genommen ständig präsent sein. Das Pflegegeld wird erst nach zwei weiteren Anfragen und somit ein und ein dreiviertel Jahr nach Erstfeststellung der Pflegebedürftigkeit an den nach wie vor juristisch voll geschäftsfähigen Pflegefall gezahlt. Die Pflegepersonen sehen davon nur einen Bruchteil, doch kann der die gröbsten finanziellen Probleme abmildern. Dieses Geld würde zumindest zeitweise den Einsatz einer Haushaltshilfe ermöglichen, doch sperrt sich der Pflegefall mit aller zur Verfügung stehenden Gewalt dagegen. Weil: Er gefällt sich darin, einem bisher latent vorhandenen Rassismus jetzt freien Lauf zu lassen. Und das heißt (O-Ton): „Alle Polen klauen und alle Neger sind dumm!“

Schließlich kommt der Tag, von dem an der Pflegefall gleich ständig im Bett liegen bleibt, seine Nachtwäsche gar nicht mehr ablegt, nur noch hin und wieder mal die Toilette aufsucht – wird ja so schön warm da unten wenn man gleich liegen bleibt – und eigentlich nur noch zum Essen aufsteht. Jetzt sprechen selbst Dritte, die das zufällig mitbekommen, von Verwahrlosungstendenzen und geben den Pflegepersonen die Schuld dafür. Die aber wissen mittlerweile nicht mehr, was sie zuerst und zuletzt machen sollen, denn jede freie Minute bei denen besteht nur noch aus Putzen, Waschen und Kochen, während zwei Waschmaschinen permanent laufen. Rein schon aus Gründen des Selbstschutzes sind sie gezwungen, das Elend nicht mehr an sich heran und hin und wieder eben den Dreck auch Dreck sein zu lassen. Der Pflegefall fühlt sich dadurch herabgewürdigt und verlegt sich auf das Jammern von „Oh-oh-oh, ach-ach, oh-ach …“ und antwortet auf die Fragen, ob ihm etwas weh tut, wenn ja was, ob ihm schwindelig oder übel ist mit „Weiß ich nicht!“. Eine normale Konversation mit ihm ist unmöglich geworden; jede Diskussion mit einem Backstein wäre erfolgversprechender. Dabei ergeht sich der Pflegefall mittlerweile tagtäglich in lautstark gebrüllten Beschimpfungen und Beleidigungen und verlangt nach mehr Fürsorge denn je, wobei nichts – aber auch gar nichts! – richtig ist und sein unerträgliches Verhalten nur noch mehr anfacht. Und wie schon gesagt: Die erkrankte Person gilt nach deutschem Gesetz rein rechtlich nach wie vor als voll geschäftsfähig. Übrigens geschieht es jetzt bereits ganz vereinzelt mal, dass Angehörige nicht mehr erkannt werden.

Das ist das, was ich von Anfang 2013 bis Ende 2018 – mithin also bereits sechs Jahre lang – selbst erlebt habe und auch noch erlebe. Die Zukunftsperspektive sieht so aus, dass es nur schlimmer wird, wenn Mutter Natur nicht vorher korrigierend eingreift. Das ist Alzheimer. Und das ist nur einer von den drei Pflegefällen, die meine Frau und ich versorgen müssen … Aktuell laufen im Fernsehen wieder die Spendengalas, wie in jedem Jahr vor Weihnachten. Das dort gespendete Geld geht auch an die Institutionen, die sich öffentlichkeitswirksam mit der Pflege und Behandlung von Alzheimerkranken befassen. Es geht damit an die Spitze des Eisbergs, denn die im Dunkeln sieht man nicht. Diejenigen aber, die tagtäglich und nicht selten zum eigenen Nachteil aus reiner Nächstenliebe die Arbeit machen, erhalten keinerlei Hilfe. Sie gehen leer aus. Ist es falsch zu sagen, dass diese Menschen seitens der Gesellschaft hemmunglos ausgenutzt werden? Es wäre Sache der Politik, dafür Sorge zu tragen, dass Menschen, welche Angehörige pflegen, mit den Mitarbeitern von Pflegediensten gleichgestellt werden – hinsichtlich Einkommen sowie Kranken – und Rentenversicherung. Aber das würde ja wieder Geld kosten. Geld, welches man dann nicht mehr öffentlichkeitswirksam spenden kann bzw. braucht. Geht ja gar nicht …