„If you know your history then you would know where you coming from …“
(Bob Marley in „Buffalo Soldier„)
Das hier ist ein Beitrag in eigener Sache, und zwar ein sehr persönlicher Beitrag. Ich habe lange überlegt, ob ich das veröffentliche … – aber vielleicht haben der/die eine oder andere LeserIn schonmal ähnliches erlebt. Welche Bedeutung hat eigentlich die Zeit? Manchmal lohnt sich Hartnäckigkeit, selbst dann, wenn man dabei rund ein Jahrzehnt an Geduld aufbringen muss. Das wohl mit Abstand merkwürdigste Erlebnis meines Lebens – eigentlich gar nichts Weltbewegendes, sondern eben einfach nur auffällig und sehr, sehr merkwürdig – hatte ich im Herbst 2010 im Rahmen einer Schottland-Rundreise. Im Verlauf dieser Reise machten meine Frau und ich auch eine Stadtrundfahrt durch Edinburgh. Die endete auf dem Vorplatz (der Esplanade) des Edinburgh Castle – dem Ort, an dem Mike Oldfield traditionell seine Premieren der verschiedenen Versionen von Tubular Bells aufgeführt hat. Als wir dort eintrafen, da wurden gerade die Tribünen eines zurück liegenden Musikerevents demontiert. Interessantes Detail am Rande: Egal, ob es bei den Konzerten dort Pickelsteine regnet – Schirme sind zwar nicht verboten, aber extrem unerwünscht. Standrechtliche Hinrichtung bei der Verwendung eines Regenschirms ist durchaus nicht auszuschließen … 😉
Danach das Castle: Eine unglaublich komplexe und weitläufige Anlage auf dem Basaltkegel eines erloschenen Vulkans, älter als tausend Jahre. Wir schauten beim traditionellen Abfeuern der „One O’Clock Gun“ („13-Uhr-Kanone“) zwecks Stellen der Uhren zu und bewunderten glitzernde Klunker – die Schottischen Kronjuwelen. In der Anlage könnte man sich vermutlich locker eine ganze Woche lang aufhalten. Und wir bestaunten die fantastische Aussicht. Im Anschluss an das Castle traten wir uns auf der Royal Mile die Füße platt. Hier gucken, da gucken. Und staunen. Shops ohne Ende. Besichtigung von St. Giles – eher aus der Not heraus auf der Flucht vor einem plötzlichen Regenschauer geboren. Die Royal Mile zeigte aber auch, wie die Altstadt gebaut ist. Vorne geradzu monströse Fassaden. Zugehörige Hinterhöfe von der Größe mehrerer Fußballfelder, ebenfalls im ganz großen Stil bebaut und von der Straße aus unsichtbar. Dorthin führende winzige, dunkle und geradezu unheimliche, tunnelartige Durchgänge, die sogenannten Closes, auch als Courts oder Wynds bezeichnet. Die spielen aufgrund ihres Flairs in Robert Louis Stevensons „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ auch eine ganz besondere Rolle. Wem Stevenson jetzt nicht so geläufig ist: „Die Schatzinsel“ und „Kidnapped – Die Abenteuer des David Balfour“ sind auch von ihm.
Die Closes … Irgendwie seltsam. Jedenfalls passierte mir da eine ganze Kette von ineinander greifenden, geradezu mysteriösen und mich ganz persönlich betreffenden Zufällen, die keiner glaubt, der sie nicht erlebt hat … Zufälle, die mich ins „Writer’s Museum“ und auf die Spur der (verstorbenen und mir bis dato völlig unbekannten) schottischen Schriftstellerin Nan (Anna) Shepherd führten. Zufälle, die möglicherweise tief in die Vergangenheit meiner eigenen Herkunft reichen … Das Foto von Nan Shepherd war das Gesicht meiner Urgroßmutter Marie Sandvoß aus Jütland. Und die Umstände, die mich überhaupt erst zu diesem Foto führten, lassen sich nicht wirklich rational erklären. Sollten das alles Zufälle – die wie die Zahnräder eines Getriebes ineinander greifen – gewesen sein, dann ist dagegen ein Lottosechser was alltägliches.
Edinburgh, 14.09.2010, irgendwann am späten Nachmittag: Der übliche Touristenbummel über die Royal Mile. Um meine Frau vom sinnlosen Geldausgeben abzuhalten, lockte ich sie in eins der Closes, in eine der Seitenstraßen. Es war ein ganz besonderes Close, aber das wussten wir zu dem Zeitpunkt noch nicht – erster Zufall. Dann öffnete der Himmel seine Schleusen (aber richtig!) und wir flüchteten uns in den erstbesten, offenen Hauseingang. Zweiter Zufall: Es handelte sich um das Writer’s Museum. Eher gelangweilt schlenderten wir durch das EG und der Regen hielt an. Dann 1. OG und es regnete immer noch. Danach UG. Es schüttete immer noch und deswegen gingen wir schließlich noch – trotz meiner quietschenden und nach Erbarmung schreienden Menisken – ins zweite OG (zuvor hatte ich die Treppe vermeiden wollen). Dorthin, wo die eher unbekannteren Schriftsteller aus Schottland Erwähnung finden.
Dritter Zufall: Der Regen hörte auf, die Sonne kam durch und durch die zugehängten Fenster, die nur einen winzigen Spalt offen ließen, fiel ein Sonnenstrahl auf ein Foto an der Wand. Es handelte sich um das Foto von einer uralten Frau. Meine Gattin blieb stehen. Ich auch. Fassungslos! Sie sagte: „Das ist doch deine Urgroßmutter da auf dem Bild!“ Vierter Zufall … Das war keine Ähnlichkeit mehr; das war absolut das Gesicht meiner Urgroßmutter Marie Sandvoß (13.10.1875-13.3.1962) aus Dänemark! Nur: Sie war es nicht. Die Bildbeschreibung ergab eine schottische Schriftstellerin namens Nan (Anna) Shepherd. Mehr nicht. Sehr mysteriös … Mir reichte das nicht. Deswegen gingen wir wieder nach unten und ich wandte mich an das Museumspersonal, wollte mehr erfahren.
Binnen kürzester Zeit entstand eine Diskussion mit drei Museumsleuten und dann wurden Schreibtische geöffnet sowie dicke, staubige Ordner gewälzt. Alles, was man mir über Nan Shepherd sagen konnte war, dass sie aus Aberdeen stammte, 1893 geboren wurde und 1981 verstarb. Aberdeen – geht man auf dem gleichen Breitengrad direkt nach Osten, dann trifft man auf den Norden von Dänemark und ziemlich genau auf die Gegend, aus der Marie Sandvoß stammt: Fünfter Zufall. Ich hörte, dass Nan Shepherd als Schottlands erste Feministin gilt, unverheiratet gewesen sein soll und Novellen über die Natur und das Leben der Frauen in den Highlands verfasst hat. Sie galt als „Highland Walker“ (Bergwanderer) und gab Kurse zum Naturverständnis für Schüler und Studenten. Hinsichtlich weiterer Auskünfte verwies man mich an die National Library, aber das war bis zur Abfahrt des Busses unmöglich zu schaffen. Nan Shepherd war achtzehn Jahre jünger als Marie Sandvoß. Sechster Zufall: Ihr Vorname „Nan“ ist die schottische Form von „Anna“, wobei „Anna“ in Schottland weniger, in den skandinavischen Ländern hingegen weit verbreitet ist. Und dann gibt es noch so einige Charaktereigenschaften, die Nan Shepherd zugeschrieben werden. Siebter Zufall: Das sind exakt die Charaktereigenschaften, die man mir selbst als freiwilligem Probanden bei den Studien in der MH Hannover zugeschrieben hat.
Theoretisch wäre eine verwandtschaftliche Beziehung durchaus denkbar. Ich habe später (weil mir die Geschichte keine Ruhe ließ) im Rahmen von langwierigen I-Net-Recherchen und jahrelangen Mail-Korrespondenzen herausgefunden, dass Nan Shepherd die Tochter des Ingenieurs John Shepherd und der Mutter Jane Kelly gewesen ist. Über die Groß- oder Urgroßeltern wäre daher eine Verbindung denkbar, aber das reicht zurück in die Zeit um 1800 bis 1820 oder sogar noch früher. Im Dreißigjährigen Krieg um 1630 kämpften Schotten und Dänen Seite an Seite; im Zweiten Nordischen Krieg um 1710 gegeneinander, wobei die Dänen in Aberdeen einfielen. Einige von denen ließen sich in Folge dort dauerhaft nieder.
Die frappierende Ähnlichkeit zwischen Marie Sandvoß und Nan Shepherd kann man durchaus als Indiz dafür werten, dass den Beiden die gleichen familiären Wurzeln zu eigen sind. Meine Urgroßmutter entstammte einer Fischer- und Seefahrerfamilie. Ob sie Geschwister gehabt hat, ist mir nicht bekannt. Aber es wäre wahrscheinlich, da seinerzeit aufgrund der immer wieder aufflackernden Pocken die Familien kinderreich gewesen sind und die Kinder oftmals erst nach überlebter Infektion ihren Namen erhielten. Dann wäre es nämlich auch möglich, dass es eine „große Schwester“ meiner Urgroßmutter nach Aberdeen verschlagen hat und dass die dort eine Tochter namens Anna – Nan – hatte … Mysteriös – und irgendwie auch etwas unheimlich. Ich will hier wirklich nichts zusammenkonstruieren, aber das sind mir zuviele mysteriöse Zufälle, die zu gut zusammen passen. Mehr als bloße Zufälle? Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde …
Jedenfalls wollte ich mir selbst ein Bild von Nan Shepherd machen. Als Schriftstellerin hatte sie einige Bücher geschrieben. Eins davon galt als Geheimtipp für Naturschilderungen allergrößter Güteklasse: „The Living Mountain“. Das Buch entstand gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, wurde aber erst 1977 erstveröffentlicht. Irgendwann im Verlauf des vergangenen Jahrzehnts besorgte ich mir das aus dem Ausland, denn eine deutsche Übersetzung gab es bis dato nicht. Na ja … – englischsprachige Literatur hatte ich schon mehrfach gelesen. Das sollte also kein Problem darstellen … – tat es aber doch! Denn es handelte sich um altes Englisch! Mehr noch: Um altes Schottisch! Zwar wies die englischsprachige Ausgabe im Anhang ein kleines Wörterbuch „Schottisch – Englisch“ auf, aber wenn man bei jedem zweiten Satz nachschlagen muss, um Schottisch nach Englisch und Englisch nach Deutsch zu übersetzen, dann ist „Lesen“ eindeutig der falsche Begriff!
Jedenfalls machte das so keinen Spaß und – was mir nur äußerst selten passiert – nach zwei Dritteln des Buches warf ich verzweifelt das Handtuch. In den Folgejahren hielt ich immer mal wieder nach einer deutschen Übersetzung Ausschau. Die wurde erstmals im Oktober 2019 von einem kleinen NoName-Verlag angeboten. Bestellte ich – und das Buch war trotz des Vermerks „Auf Lager“ vergriffen! Nun wurde es endlich nachgedruckt. Ich hatte meine Bestellung aufrecht erhalten. Die deutsche Fassung „Der lebende Berg“ ist heute geliefert worden. Vielleicht bringt das ja weitere (neue) Erkenntnisse? Ich bin jedenfalls auf diesen Lesestoff schon echt gespannt …