Der Mensch tendiert dazu, Verläufe linear zu betrachten. Man hat diese Erfahrung aus dem Alltag: Wenn man mit dem Auto soundso weit gefahren ist, dann hat es auch soundso viel Sprit verbraucht und das, was noch da ist, reicht für eine bestimmte Strecke. Oder wenn man einen bestimmten Betrag an Geld zur Verfügung hat, dann kann man ohne Verschuldung davon nur eine begrenzte Menge an Waren kaufen – und am Ende des Geldes ist immer noch so verdammt viel Monat übrig! Ihr kennt das ja sicherlich … Natürliche Abläufe hingegen funktionieren in den allermeisten Fällen anders, nämlich nichtlinear. Eine der nichtlinearen Varianten ist der exponentielle Verlauf. Den kennt ihr auch; ihr müsst euch dazu bloß mal die Entwicklung des RAM im Computer anschauen: 128KB, 256KB, 528KB, 1024KB (entspricht 1MB) usw. Immer eine Verdoppelung und heute sind wir schon bei 16GB. Was es mit der Verdoppelung auf sich hat, beschreibt anschaulich die Weizenkornlegende von der Erfindung des Schachspiels.

Im Verlaufe vieler Jahre bin ich zu der Auffassung gelangt, dass den allermeisten Menschen das Denken in exponentiellen Zusammenhängen ausgesprochen fremd ist. Eine Ausnahme scheinen nur diejenigen zu bilden, die sich intensiver mit den Naturwissenschaften befasst haben bzw. beruflich bedingt befassen mussten. D. h. das Gros der Menschen denkt linear und kommt somit in all den Situationen, in denen es um Exponentialverläufe geht, zwangsläufig zu falschen Schlüssen. Das betrifft auch die meisten Politiker und kann den Grund für Fehlentscheidungen darstellen. Zuerst wird (noch völlig korrekt) von „niedrigen Zahlen“ ausgegangen. Steigen die Zahlen dann aber stärker als bei einem linearen Verlauf zu erwarten wäre an, dann folgt mit „die Lage ist unter Kontrolle“ das Abwiegeln und Schönreden, u. U. sogar der eigenen Beruhigung dienend. Von da aus bis zum Explodieren der Zahlen ist es aber nur noch ein denkbar winziger Schritt und dann werden völlig überrascht dicke Backen gemacht, gemäß dem Schema „damit hat doch keiner rechnen können“. Doch – damit hat man rechnen können. Sogar rechnen müssen! Jeder Wissenschaftler rechnet mit sowas. Es könnte für den Politiker bloß unangenehm sein, auf den Wissenschaftler hören zu müssen.

Nehmen wir als Beispiel mal die neue Corona-Variante Omikron. Inzwischen geht man von einer Verdoppelung der Infektionszahlen alle drei Tage aus. Der FOCUS meldete für den 17.12.2021 gut 240 Fälle in Deutschland. Rechnen wir mal – mit der Verdoppelung alle drei Tage. Dann waren bzw. sind das am
20.12.2021: 480 Fälle
23.12.2021: 960 Fälle
26.12.2021: 1.920 Fälle
29.12.2021: 3.840 Fälle
01.01.2022: 7.680 Fälle
04.01.2022: 15.360 Fälle
07.01.2022: 30.720 Fälle
10.01.2022: 61.440 Fälle
13.01.2022: 122.880 Fälle
16.01.2022: 245.760 Fälle
19.01.2022: 491.520 Fälle
22.01.2022: 983.040 Fälle
25.01.2022: 1.966.080 Fälle
usw. D. h. ab der zweiten Januar Woche des kommenden Jahres nimmt Omikron so richtig mit Schmackes Fahrt auf und am Ende ersten Februar-Woche dürfte das Peakmaximum erreicht sein.

Aber noch etwas anderes besagen die Zahlen – wenn man nämlich berücksichtigt, wo das Limit unseres Gesundheitssystems zum Höhepunkt der Delta-Welle gelegen hat. Sollte es nicht gelingen, die Ausbreitung von Omikron zu begrenzen, dann dürfen wir getrost etwa um Mitte Januar herum mit dem Zusammenbruch unseres Gesundheitssystems rechnen. Ich hoffe allerdings inständig, dass ich mich diesbezüglich auf ganzer Linie irre. Na dann: Schönes Neues Jahr! 😦