Das, was jetzt kommt, mag manchem Stadtbewohner wie der Bericht von einem anderen Planeten erscheinen. Und doch handelt es sich um bundesdeutsche Realität – nur eben nicht in der Stadt, sondern auf dem Lande. Genauer gesagt geht es um die Gesundheitsversorgung auf dem Lande, und zwar im Schaumburger Land. Das liegt westlich der Landehauptstadt Hannover so etwa auf halbem Wege nach Hameln. Weil Kliniken gewinnbringend wirtschaften müssen (was m. E. nur ein Euphemismus für das Abzocken von Patienten ist), hat man hier vor knapp drei Jahren alle regionalen Krankenhäuser dicht gemacht und durch das Klinikum Schaumburg in Vehlen ersetzt. Na ja, fast ersetzt. Eine Kinderabteilung hat Vehlen nicht. Auch Fuß-OPs werden dort nicht durchgeführt; diesbezüglich verweist man auf die MH in Hannover, zu der auch das Annastift gehört. Und noch ein paar andere Sachen …

Das bedeutet mitunter lange Wegstrecken für die Patienten. Der Gesundheit ist das nicht gerade zuträglich, doch wie sagt man so schön: Nur ein kranker Patient ist auch ein guter Patient! Gesunde bringen den Kliniken nämlich kein Geld. Aber es kommen noch ein paar „Kleinigkeiten“ mit hinzu, nämlich einerseits der Ärztemangel auf dem Lande und andererseits die deswegen auch nicht gerade breit gestreuten medizinischen Fachhandlungen. Wenn dann obendrein noch die eine oder andere Krankenkasse aus Einsparungsgründen ihr eigenes Süppchen kocht, dann ist am Ende der Patient der Dumme. Derjenige, der auf den Kosten sitzen bleibt. Glaubt ihr nicht? Dann will ich mal zwei Fälle aus der allerjüngsten Vergangenheit schildern. Es geht um meine Frau und um meine Schwiegermutter. Und – glaubt mir! – was ich dabei erlebt habe sind wirklich keine Einzelfälle: Das ist Standard! In was für einem medizinischen Entwicklungsland leben wir eigentlich?!?

Juli 2019: Meine Frau entscheidet sich (endlich!), die schon viel zu lange aufgeschobene Fuß-OP durchführen zu lassen. Sehr viel Fahrerei schließt sich an – nach Vehlen (einfache Entfernung 30km) ins Klinkum, nach Rinteln (einfache Entfernung 40km) zum Gelenkzentrum, hier zur Untersuchung, da zum Röngen usw. (jeweils etwa 15-25km). Mitunter fahre ich sie. Schließlich steht fest: Die OP muss schnellstmöglich erfolgen. Das kann aber nur das Annastift in Hannover machen (einfache Entfernung 55km).

August 2019: Das Annastift teilt den frühestmöglichen OP-Termin mit, nämlich den 18.12.2019.

17.12.2019: Meine Frau fährt mit Öffis (4* umsteigen, 20 Treppen) in die 55km entfernte Klinik. Ich kann sie an diesem Tag nicht fahren.

18.12.2019: Die Fuß-OP findet statt und gestaltet sich deutlich komlizierter als erwartet. Tags drauf besuche ich meine Frau. In der Klinik wird mir mitgeteilt, dass klinikseitig für Gehhilfen (Unterarmgehstützen, Gehbock, Rollstuhl in den ersten zwei Wochen) gesorgt wird. Na, immerhin etwas. Wäre auch schön gewesen, wenn’s gestimmt hätte! Die Sachen sollten am Samstag, dem 21.12.2019, bei uns zuhause angeliefert werden.

21.12.2019: Es ist Samstag. Ich warte auf die Anlieferung der medizinischen Hilfsmittel für meine Frau. Ich warte den ganzen Tag lang – und zwar vergeblich. Auch zwei zwischenzeitliche Anrufe in der Klinik bringen gar nichts, denn dort sind die betreffenden Sachbearbeiter im Wochenende.

23.12.2019: Meine Frau kommt per Taxi (mit Transportschein) aus dem Krankenhaus zurück. Sie humpelt an den Unterarmgehstützen und trägt einen vom Krankenhaus leihweise für drei Monate zur Verfügung gestellten Oped-Vacoped-Stiefel, der Fuß und Bein wie ein Exoskelett stützt und schützt. Von ihren Hilfsmitteln ist noch nichts angekommen. Der Anruf in der Klinik ergibt, dass sich alle zuständigen Personen im Weihnachtsurlaub befinden. D. h. im Klartext, dass die Zeit über Weihnachten und zwischen den Jahren irgendwie frei improvisiert zu überbrücken ist – wie auch immer. Die Fäden (zwei große Schnitte) sollen in der zweiten Januarwoche seitens des behandelnden Orthopäden gezogen werden und der Fixateur (eine Art von Schaschlikspieß im Zeh) bleibt noch bis zum 27.01.2020 drin.

24.12.2019: Der Verband muss täglich gewechselt werden. Das soll die Sozialstation erledigen. Besuch beim Hausarzt (1km entfernt, ich fahre sie) und entsprechende Verschreibung, anschließend die Sozialstation besucht. Der Verbandswechsel beginnt am 25.12.2019 und wenigstens das hat geklappt. Allerdings: Das Verbandsmaterial – irre teuer wg. der Wundgaze – dürfen wir selbst bezahlen, sind so um die 60 Teuronen.

27.12.2019: Anruf beim Orthopäden und die Auskunft, dass die Praxis erst ab dem 10.01.2020 wieder geöffnet ist. Watt nu‘? Die Fäden müssen ja termingerecht raus, damit sie nicht einwachsen. Also Anruf beim Hausarzt, damit der das macht. Termin für den 07.01.2020 zum Fädenziehen gemacht.

07.01.2020: Der Verband hat sich zwischenzeitlich ein paarmal aufgelöst. Habe frisches Verbandsmateral in der Apotheke besorgt (30€) und das selbst erledigt. Die Sozialstation ist wieder abbestellt worden, denn nach dem Ziehen der Fäden – termingerecht durch den Hausarzt – gab’s auch keine neue Verschreibung. Eigentlich hätte das lt. Krankenhaus im Rahmen eines Hausbesuchs erledigt werden müssen. Doch der Hausarzt macht grundsätzlich keine Hausbesuche. Deswegen musste meine Frau den auch in der Praxis aufsuchen (ich bin gefahren). War wohl ein Bisschen zuviel: Beim Verlassen der Praxis ist sie zusammengeklappt. Die Erste Hilfe wurde meinereits geleistet. Als der Arzt endlich später auftauchte da war sie schon wieder ansprechbar. Zwischenzeitlich zigmal hin und her telefoniert wegen der immer noch ausstehenen Hilfsmittel, damit sie wenigstens halbwegs mobil ist: Fehlanzeige! Das Krankenhaus sagt, es sei alles beauftragt und ginge die daher nichts mehr an. Die Krankenkasse mauert und beharrt darauf, dass zuerst Preisrecherchen durchzuführen wären, die aber erst ab dem 15.01.2020 möglich sind, weil die meisten Mitarbeiter noch Urlaub haben.

08.01.2020: Ich beschaffe meiner Frau zumindest schonmal den Gehbock über das nächstgelegene Othopädiefachgeschäft (15km entfernt). Die Kosten i. H. von 150€ tragen wir selbst. Wie sich später noch herausstellen wird bleiben wir auf dieser Ausgabe auch sitzen, denn die Krankenkasse übernimmt gar nichts, weil wir uns nicht an deren Vertragspartner gewandt haben (wer auch immer das sein mag).

10.01.2020: Kontrollbesuch beim Orthopäden. Ärgerlich nur, dass sämtliche Unterlagen (Arztbrief, Röntgenbilder etc.) beim Hausarzt liegen und dass der sie nicht rausgibt; es lebe der Datenshutz! Watt’n Glück, dass ich zuvor alles eingescannt und die CD mit den Bildern gehackt hatte, so dass alles dem Othopäden zugänglich gemacht werden konnte. Was tun eigentlich die Leute, die keine so schlechten Vorahnungen und auch keine Ahnung von Computern haben, in so einem Fall?

15.01.2020: Der Heilungsprozess zieht sich hin. Die Wunde hat sich, nicht zuletzt durch den immer und ewig gleichen Exoskelett-Stiefel, leicht infiziert. Das bedeutet zusätzliche Arztbesuche. Ich spiele immer und immer wieder Taxi.

20.01.2020: Von den jeweils drei wöchentlichen Physiotherapie-Terminen fallen etwa 75% aus bzw. werden nach hinten verschoben, weil einerseits keine Termine zu kriegen sind (soviele Physiotherapie-Praxen gibt’s hier nämlich nicht) und andererseits in den Praxen Personalmangel herrscht.

24.01.2020: Ein Anruf von der Krankenkasse! Kommende Woche soll der Rollstuhl, der im vergangenen Jahr dringend benötigt wurde, geliefert werden! Jetzt schon, welch‘ Wunder! Ich nehme das Telefonat entgegen und frage die Dame, ob sie mich verarschen will, denn die Fäden sind schon lange raus, nächste Woche ist der Fixateur fällig und dann liegt die OP auch schon beinahe sechs Wochen zurück. Sie entgegnet höchst pikiert, dass es eben seine Zeit brauche, bis gründliche Preisrecherchen angestellt worden sind. Ich bestelle den Rollstuhl ab. Da ich in der Folgewoche selbst nicht fahren kann (Hautarzttermin, auf den ich schon seit über einem Vierteljahr sehnsüchtig warte, weil ich mir im Oktober letzten Jahres bei der Gartenarbeit so einen mistigen Pilz am Bein eingafangen hatte) wird wieder ein Transportschein benötigt.

27.01.2020: Meine Frau fährt per Taxi zum Annnastift. Der Fixateur kommt raus. Sie fährt auch per Taxi wieder zurück. Sie soll ab sofort eine Hallus-Valgus-Schiene tragen und bringt das betreffende Rezept dafür mit. Sie ruft umgehend im Orthopädie-Fachgeschäft wegen der Schiene an. Die soll am nächsten Tag da sein. Ist sie aber nicht.

30.01.2020: Die Krankenkasse ruft an und mokiert sich wegen der Transportscheine respektive der Taxikosten i. H. v. mittlerweile rund 300€. Ob man wirklich so eine exklusive (???) Klinik hat wählen müssen oder ob man nicht vielleicht doch einfach ins nächstgelegene Krankenhaus hätte gehen können? Ja, verflucht nochmal – das war das nächstgelegene Krankenhaus! Was kann denn der Patient dafür, wenn der Spahn eierschaukelnd auf seiner rosa Wolke rumsitzt und völlig realitätsallergen alles dichtmachen lässt?!? Die Sache mit den Taxikosten ist jedenfalls noch nicht ausgestanden …

03.02.2020: Die Hallus-Valgus-Schiene, die schon seit über einer Woche hätte getragen werden müssen, ist immer noch nicht da. Angeblich nicht lieferbar. Ich recherchiere selbst danach im Internet, finde das Ding und bestelle es auf eigene Kappe (30€). Soll übermorgen geliefert werden.

Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott – anders kann ich das deutsche Gesundheitssystem nicht beschreiben. Außer vielleicht … – außer wenn Absicht dahinter steckt, weil ja nur ein kranker Patient ein guter Patient ist. Aber das möchte ich nun wirklich niemandem unterstellen. Soviel zu den medizinischen Erlebnissen mit meiner Frau. Nun zu den medizinischen Erlebnissen mit meiner Schwiegermutter.

27.01.2020: In den frühen Morgenstunden stürzt Schwiegermutter schwer, ist bewegungsunfähig und kaum noch ansprechbar. Sie zeigt zwar keine typischen Apoplex-Symptome, aber irgendwie sieht es entfernt doch danach aus. Der RTW wird gerufen. Der Fall wird notiert. Der RTW bringt sie ins Klinikum nach Vehlen. Dort diagnostiziert man eine „leichte Knieprellung“ und schickt sie wegen akutem Mimimi umgehend wieder per KTW nach Hause. Die KTW-Besatzung ist brastig. Ich auch. Mittags stürzt sie nochmal; das Ganze wiederholt sich – fast! Der RTW nimmt sie nämlich gar nicht erst mit. Ich suche umgehend den Hausarzt von Schwiegermutter auf und bitte dringendst um einen sehr zeitnahen Hausbesuch, denn ich habe echt Angst, dass die mir binnen der nächsten paar Minuten krepiert.

28.01.2020: Mittags kommt ihr Hausarzt, wirft nur einen einzigen Blick auf die Kranke und alarmiert umgehend einen RTW. Der bringt sie jetzt mit Verdacht auf Apoplex in die DSK in Bad Münder, obgleich besagtes Krankenhaus dafür eigentlich gar nicht ausgerüstet ist. Aber in Minden und Hannover sind keine Betten frei und nach Vehlen soll sie lt. ärztlicher Auskunft auf gar keinen Fall – Zitat Hausarzt: „Die gehört umgehend in ein RICHTIGES Krankenhaus!“ In dem Augenblick fallen mir umgehend und unwillkührlich wieder ein paar der Vehlen-Witze ein, die hier im Schaumburger Land im Umlauf sind – so nach dem Schema: Neulich in Vehlen – treffen sich zwei Ärzte. „Na Kollege, wie war ihre erste Operation?“ „Wieso Operation? Ich dachte Obduktion!“ Oder der hier: Neulich in Vehlen. Fragt der Patient: „Herr Doktor, wird die Operation sehr teuer?“ „Keine Sorge – diees Problem können Sie getrost Ihren Erben überlassen!“ Und das sind nur zwei Beispiele, die den Ruf des Klinikums Schaumburg in der Bevölkerung beschreiben …

29.01.2020: Meine Frau und ich besuchen sie in der DSK. Sie befindet sich auf dem Weg der Besserung, ist aber nicht mehr mobil. Unsere Fragen nach ihrem Zustand bleiben mit dem Hinweis auf den Datenschutz komplett unbeantwortet. Zuerst muss die Klinik nämlich eine Kopie der Vollmacht sehen.

30.01.2020: Die Kopie der Vollmacht wird in der DSK eingereicht. Bloß schade, dass der durchaus sehr hilfsbereite Pfleger kaum des Deutschen mächtig und auch kein Arzt greifbar ist. Wir werden auf die ärztlichen Sprechzeiten von Mo.-Fr. zwischen 14:45 und 15:30 Uhr verwiesen. Jetzt, wo die Vollmacht vorliegt, könnte man da auch telefonische Auskunft erhalten.

31.01.2020: Ich versuche ca. zehnmal, dort tel. einen Arzt zu erreichen. Leider vergeblich. Irgendwann teilt man mir mit, dass der Herr Doktor der einzige Arzt auf der Station sei (in seiner Haut möchte ich nicht stecken!), gerade einen Notfall versorgen würde und daher auf noch nicht absehbare Zeit in der Intensivstation beschäftigt ist.

03.02.2020: Wieder rund zehn telefonische Versuche und diesesmal – das ist beinahe schon wie ein Sechser im Lotto! – gelingt es mir doch tatsächlich, einen Arzt an’s Rohr zu bekommen: Wahnsinn! Mir wird mitgeteilt, dass der Zustand meiner Schwiegermutter bei Einlieferung lebensbedrohlich gewesen ist. Das hatte ich schon vermutet. Sie sei jetzt auf dem Wege der Besserung – das hatte ich auch schon vermutet – aber noch nicht stabil. Wenn sie stabil ist, dann wird sie zwar entlassen, aber höchstwahrscheinlich ein Liegend-Pflegefall sein. Darauf sollten wir uns einstellen.

So, das waren jetzt meine allerjüngsten Erlebnisse mit der deutschen Gesundheitsversorgung auf dem Lande. Ich frage mich mittlerweile, ob man angesichts solcher Zustände nicht bei den Bush Doctors in Botswana besser aufgehoben wäre! Vor allem aber frage ich mich, von was für einem kaputten Planeten der Spahn kommen muss, wenn er besserwisserisch von Einsparungen im Gesundheitswesen faselt! Es gibt wirklich Leute, denen wünsche ich aus tiefstem Herzen ein ganz, ganz übel juckendes Furunkel am Arsch und beide Arme in Gips … 😦